Freitag, 21. April 2017

Evaluation

Langsam neigt sich meine Zeit hier dem Ende entgegen - was heißt langsam. Mittlerweile sind nur noch um die drei Wochen übrig. Ich habe schon die ersten Mitbringsel gekauft und so ein bisschen mit dem Packen angefangen.
Dadurch, dass ich jetzt fast ein Jahr hier war, fragen die Lehrer, Mitschüler und auch meine Familie an, zu fragen, was mir dieses Jahr gebracht hat (also gut, hauptsächlich fragen die Lehrer). Die Leute, die nur auf die Schule fokussiert sind, denken im ersten Moment oft, dass ich dieses Jahr mehr oder weniger "verschwendet" habe. Dabei ist es das komplette Gegenteil! Ja, in Mathe, Chemie und Co. habe ich nicht wirklich viel neues gelernt, aber das war ja auch nicht der Plan. Ich wollte andere Sachen lernen, über die Kultur, das Familienleben, die Wertevorstellungen. Das ist es, was mir in diesem Jahr am wichtigsten war. Das, und eine neue Familie zu finden. Ja, für mich sind sie wirklich eine Familie. Ich überlege schon, wann und wie ich sie am besten wieder besuchen kann und in meinen Augen kann es gar nicht früh genug sein. Ein bisschen gedulden muss ich mich aber trotzdem. Gott sei Dank gibt es Skype und WhatsApp, so dass ich bis dahin in Kontakt bleiben kann. Ich erwarte schon, dass mein Papa mich, zumindest am Anfang, drei bis fünf Mal in der Woche anruft. Mindestens.
Jetzt Mal abgesehen von den tollen Menschen, die ich getroffen und in mein Herz geschlossen habe, was kann ich sonst noch so mitnehmen? Ich habe Erfahrungen gemacht, die mir keiner mehr wegnehmen kann. Ich habe Festivals wie Diwali oder Holi genau so erlebt, wie ein Einheimischer, der sie schon sein ganzes Leben lang feiert. Nicht als Zuschauer und ohne Extrawurst, die ein Besucher vielleicht kriegen würde. Dasselbe gilt für die Hochzeit, ich war mittendrin und nicht nur dabei. Ich habe den Alltag erlebt. Alltag hört sich im ersten Moment erstmal langweilig an, im zweiten auch noch. Aber nicht für mich. Der ganze Tagesablauf ist komplett anders, es gab Sachen, an die ich mich erst gewöhnen musste, bei denen ich jetzt aber glaube, dass es auch wieder schwer wird, mir das anzugewöhnen. Aber das werde ich wohl erst in Deutschland sehen. Ich glaube, es gibt viele Sachen, die ich erst in Deutschland realisieren werde, zurzeit sind sie einfach normal. Das ist eine weitere so tolle Sache an dem Austausch. Er ist nicht automatisch mit dem Rückflug vorbei. Man lernt danach noch viel, ich will auch bei YFU mitzuhelfen. Aber so viel will ich über nach dem Rückflug auch gar nicht erzählen, immerhin habe ich es noch nicht erlebt.
In diesem Jahr bin ich auch toleranter oder besser: verstandesvoller geworden. Toleranz war für mich schon immer  wichtig und ich kann Menschen nicht verstehen, die aufgrund von Vorurteilen über Leute, Länder oder Kulturen bereits eine, meist negative Meinung, haben. Ich war nie so, aber es gab trotzdem Sachen, die ich nicht verstanden habe. Nein, ich habe sie nicht verurteilt, aber ich konnte eben auch nicht verstehen, warum man es macht. Ein Beispiel, dass es vielleicht verständlicher macht, was ich gerade sagen will: eine arrangierte Ehe. Früher konnte ich die Menschen nicht verstehen, die das einer Liebesheirat vorgezogen haben. Aber solange beide Partner mit der Hochzeit einverstanden und glücklich waren, hatte ich auch nichts dagegen. Also wie schon gesagt, ich habe es toleriert aber nun Mal nicht verstanden. Jetzt würde ich für mich persönlich immer noch eine Liebesheirat vorziehen, das liegt wohl vor allem an dem kulturellen Hintergrund, in dem ich aufgewachsen bin. Aber ich kann es verstehen, warum die Braut und der Bräutigam beide damit einverstanden und glücklich sind. Sie haben ein riesen Vertrauen in ihre Eltern, die den Zukünftigen bzw. die Zukünftige mit viel Lebenserfahrung und ohne durch eine rosa Brille, die das Bild gegebenen Falls verzerren würde, auswählen. Das Paar weiß, dass sie an der Liebe zueinander arbeiten müssen, aber keine Ehe ist ganz ohne.
Nach einer Hochzeit, egal ob arrangiert oder durch Liebe, entsteht natürlich eine eigene, kleine Familie. Bevor meiner Abreise nach Indien habe ich in einem Erfahrungsbericht gelesen, dass man erst in Indien lernt, was Familie eigentlich bedeutet. Ich dachte mir, das kann in meinem Fall nicht stimmen, ich habe meine Eltern und meine Geschwister doch jetzt schon total lieb. So weit war ich auch richtig, dennoch würde ich den Zitat jetzt zustimmen. Familie bedeutet nämlich nicht nur die Leute, mit denen man unter einem Dach wohnt. Auch die Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins und natürlich auch die Großeltern gehören dazu. Ich habe alle in diesem Jahr, von Januar bis April, schon öfter gesehen als meine Verwandtschaft in Deutschland in einem ganzen Jahr, wahrscheinlich öfter als in zwei Jahren. Noch dazu wird viel regelmäßiger telefoniert und jeder ist immer auf dem laufenden. Ich hoffe, das ist etwas, das ich mit nach Deutschland nehmen kann und dann auch eine engere Beziehung zu meiner Familie habe, als vor diesem Jahr.
Auch über Religion habe ich viel gelernt. Natürlich vor allem über den Hinduismus, da das die Religion meiner Familie ist. Ich hatte davor natürlich schon von ein paar Gottheiten gehört, zum Beispiel Ganesh, aber so richtig viel wusste ich auch nicht darüber. Mittlerweile sind mir die Abläufe beim Beten, also der Pooja, und im Tempel bekannt, ich kenne die wichtigsten Götter und einige ihrer Geschichten. Ich habe dadurch auch viel über meine eigene Religion, also das Christentum, nachgedacht. Hier wird viel zu Statuen gebetet, die einen Gott darstellen, da mache ich natürlich auch mit. Laut den zehn Geboten ist es verboten, zu einem anderen Gott oder einem sogar nur einem Gottesabbild zu Beten, trotzdem habe ich beides gemacht. Aber ein schlechtes Gewissen habe ich trotzdem nicht. Ich glaube, jetzt mehr als jemals zuvor, an einen toleranten Gott, zu dem ich zurzeit einfach durch einen anderen Weg meinen Glauben zeige.
Das ist lange noch nicht alles, was ich gelernt habe, aber für vieles fehlen mir einfach die Worte oder ich habe es noch gar nicht wirklich realisiert, dass​ ich darüber nachgedacht habe und mein Verhalten oder meine Meinung geändert habe. Alles in allem kann ich aber sagen, dass es mit Abstand das lehrreichste und unvergesslichste Jahr meines bisherigen Lebens war. Und es kommt bestimmt kein Jahr, das dieses hier toppen kann!

Und zum Abschluss gibt es jetzt noch ein paar zusammenhangslose Fotos :)

















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